BGH sieht die Änderungsbescheide zur Startgutschrift als rechtmäßig an, IV ZR 120/22

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einem Verfahren gegen die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder wegen Änderung der Startgutschrift durch  ein Grundsatzurteil vom 20.September 2023 , Az. IV ZR 120/22 ,die Revision der dortigen Klägerin gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen hat.
 
Der Bundesgerichtshof vertritt die Rechtsauffassung, dass das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler angenommen habe, dass die für rentenferne Versicherte getroffene Übergangsregelung wirksam ist. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine anderweitige Berechnung ihrer Startgutschrift.
 
1.
a) Der BGH führte aus, dass es keinen rechtlichen Bedenken begegne, wenn bei der Ermittlung der Startgutschrift für die Berechnung der Voll-Leistung die von der Höchstversorgung in Abzug zubringende voraussichtliche gesetzliche Rente des Versicherten nicht individualisiert, sondern nach dem so genannten Näherungsverfahren ermittelt werde.
 
Die Anwendung des Näherungsverfahrens verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Zwar könne sich die Anwendung des Näherungsverfahrens im Vergleich zu einer individualisierten Berechnung der fiktiven gesetzlichen Rente ungünstig auswirken. Die mit dieser Ungleichbehandlung im Einzelfall verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten seien aber hinzunehmen. Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen und der Regelung hochkomplizierter Materien, wie der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, könnten typisierende und generalisierende Regelungen zulässig sein. Ohne Rechtsfehler habe das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens die verfassungsmäßigen Grenzen einer zulässigen Typisierung und Standardisierung einhalte.
 
b) Wir teilen diese Rechtsauffassung nicht. 
 
Die jetzigen Ausführungen des Bundesgerichtshofs stehen unseres Erachtens im Widerspruch zu den eigenen Ausführungen des Bundesgerichtshofs in der Ausgangsentscheidung vom 14.11.2007, Az: IV ZR 74/06. In dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof die seinerzeitigen Feststellungen des Berufungsgerichts (OLG Karlsruhe) wiedergegeben, wonach das Näherungsverfahren sich für einen nicht erheblichen Teil der Pflichtversicherten spürbar nachteilig auswirkt. Teilweise übersteige die sogenannte Näherungsrente die umgerechnete Individualrente beträchtlich, im Einzelfall bis zu 47 %. Betroffen seien insbesondere Personen mit längerenr Ausbildungs- und Fehlzeiten, etwa durch Kinderziehung, also solche Versicherten die dem Näherungsverfahren pauschal zugrunde gelegte Lebensarbeitszeit von rund 45 Jahren aufgrund ihrer individuellen Erwerbsbiografie nicht erreichen konnten. 
 
Der Bundesgerichthof hat im Weiteren ausgeführt (Rn 116): 
 
„Ob dagegen die von Art. 3 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen zulässiger Typisierung und Standardisierung durch die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens überschritten sind, das heißt ein Maß erreichen, das nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr hingenommen werden kann, hängt sowohl von der Intensität möglicher Benachteiligungen als auch von der Zahl der Betroffenen ab (vgl. BVerfGE 100, 59, 90; 111, 115, 137). Der Senat kann diese Frage aufgrund der bisherigen Feststellungen des Berufungsreichts noch nicht abschließend beurteilen.“ 
 
Der Bundesgerichtshof führte hierzu aus (Rn 119), dass über diese Fragen das Berufungsgericht ein Sachverständigenbeweis hätte erheben müssen, da die Frage nach den qualitativen und quantitativen Auswirkungen des Näherungsverfahrens letztlich auf eine flächendeckende Untersuchung zielte, die der besonderen Sachkunde eines Sachverständigen erfordert hätte. 
 
Der Bundesgerichtshof hatte somit gerügt, dass das Oberlandesgericht Karlsruhe über diese Streitfrage kein Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen eingeholt hat. Ein solches gerichtliches Sachverständigengutachten eines objektiven Dritten wurde auch in der Folgezeit nicht eingeholt. 
 
Die nachträglichen Berechnungen der VBL sehen wir als nicht überzeugend. Sie qualifizieren sich u.E. als Parteivortrag. 
 
Wir sehen es für bedenklich an, wenn der Bundesgerichtshof nunmehr ohne Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu dem gesicherten Ergebnis gelangt sein will, dass die verfassungsmäßigen Grenzen durch die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens nicht überschritten würden.
 
Dies umso mehr, als der Bundesgerichtshof vormals eine Beweisfälligkeit sah und es sich nach eigenen Ausführungen des Bundesgerichtshofs um eine hochkomplexe Materie handelt. Dies hätte unseres Erachtens gerade deshalb nach der Beurteilung durch einen gerichtlichen Sachverständigen gerufen. 
 
2.
a)
Der Bundesgerichtshof führt im Weiteren aus, aus Rechtsgründen sei ebenfalls nicht zu beanstanden, dass der Startgutschriftenermittlung nunmehr ein gleitender Anteilssatz von 2,25 % bis 2,5 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung zugrunde gelegt werde.
 
Der gleitende Anteilssatz bewirke keine neue unzulässige Ungleichbehandlung wegen des Alters der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den öffentlichen Dienst eingetretenen Versicherten. Zwar falle für diese Versicherten der gleitende Anteilssatz - begrenzt auf mindestens 2,25 % - desto kleiner aus, je jünger sie in den öffentlichen Dienst eingetreten sind. Das bewirke jedoch unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien keine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters.
 
b)
Wir teilen auch diese Rechtsauffassung nicht.
 
Wir sehen für der niedrigeren Bewertung der Umlagezahlungen der sogenannten Früheinsteiger keinen sachlich tragenden Grund. 
 
Die Regelung qualifiziert sich unseres Erachtens als ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 3 GG, an das auch die Tarifvertragsparteien gebunden sind.
 
Die Kürzungen können unseres Erachtens auch nicht aus dem Gesichtspunkt der Betriebstreue gerechtfertigt werden, da Früheinsteiger grundsätzlich eine längere Dienstzeit ausweisen als Späteinsteiger, somit gerade betriebstreuer als Späteinsteiger sind.
 
3.
Wir bedauern die Entscheidungsentwicklung des Bundesgerichtshofs zur Überprüfung der Startgutschrift.
 
Es muss jedoch dennoch bedacht werden, dass die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs in Rechtskraft erwächst.
 
Es ist nicht zu erwarten, dass der Bundesgerichtshof in etwaigen anderen Revisionsverfahren zur gleichen Rechtsfrage von seiner dargelegten Rechtsauffassung abrückt. Es muss zudem davon ausgegangen werden, dass die Instanzgerichte in den noch schwebenden Verfahren auf Berichtigung der Startgutschrift der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs folgen werden. 
 
Diese Gesichtspunkte gelten für die anhängigen Startgutschriftverfahren aller Zusatzversorgungskassen, da diese sämtliche auf den streitbefangenen tarifvertraglichen Regelungen basieren.
 

Valentin Heckert
Rechtsanwalt

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